Leoš Janáčeks:
"Tagebuch eines Verschollenen"
In der
Liederliteratur der gesamten Welt ist kaum ein so umfangreicher und
eigenartiger Zyklus zu finden, wie ihn Leoš Janáček (1854-1928)
in seinem "Tagebuch eines Verschollenen" geschaffen hat. Das
Werk entstand zwischen 1917 und 1919 und besteht aus 21 kürzeren
Liedern und einem Intermezzo für Klavier. Janacek ergänzt die
Klavierbegleitung an manchen Stellen mit einem Zusammenklang von
Frauenstimmen und er fügt kleine szenischen Ergänzung ein:
"Halbdunkel", "rotes Licht", "hier tritt unauffällig
die Sängerin ein", "die Sängerin unauffällig ab".
In
der Tageszeitung "Lidove Noviny", fand Janáček 23 balladenartige Gedichte
von
denen er sich gepackt fühlte. Ihm gefiel ihre lapidare Sprache,
die gedrängte, knappe Form und
die dramatische Bewegung. Aus der losen Folge dieser Gedichte, in denen
die Liebe des jungen Bauernsohnes Jan zur schönen Zigeunerin Seffka
geschildert wird, gelang es Janáček ein kleines Kammerdrama in 22 Teilen zusammenzufügen.
Der melodische Gehalt des "Tagebuches"
blüht aus dem tiefen Erleben der Dichtung auf. Es entsteht durch ein
musikalisches Motiv, das Janacek
in den verschiedenartigsten Variationen zu ungeahnter Geltung und
Wirkung bringt. Durch die
Verarbeitung des Motivs, durch seine geniale Variierung, durch das
Ungestüm, das er ihm verleiht, und wiederum sein sanftes Ausklingen
erzielt Janacek immer neue, packende Wirkungen des Ausdrucks. Was die
Harmonie betrifft, verleugnet Janacek niemals die impressionistische
Grundlage, aber stärker als alles andere ist die melodisch-rhythmische
Kraft seiner dramatischen Charakteristik und die innere Spannung in
seiner Musik. Das Baugefüge der Komposition ist bei ihm immer einfach,
ungekünstelt: eine temperamentvolle, bewegliche rhythmische Figuration
und die Bässe. Dem Klavier fallt nicht bloß die Aufgabe zu, die Sänger
zu begleiten: psychologisch und dramatisch bildet es den eigentlichen
Schwerpunkt des Ausdrucks und der ganzen Handlung. Im XIII., dem Klavier
vorbehaltenen Teil flammt die Leidenschaft des jungen Bauernsohnes auf,
aber sie wandelt sich auch wieder in lyrische Zartheit. Die
Frauenstimmen steigern noch die zwingende Gewalt, die von der verführerischen
Zigeunerin ausgeht, und den Zauber der berückenden, blühenden Natur.
Jede
Komposition Janaceks und vor allem das "Tagebuch" ist voll des
überströmenden, alles mitreißenden Lebens. Alle 22 Teile dieses
Werkes bilden ein engverknüpftes, wohlgefügtes, dramatisch
wirkungsvolles und in der Stimmung ausgeglichenes Ganzes. Seiner
Originalität wegen nimmt das "Tagebuch eines Verschollenen"
in der Liedliteratur der Welt einen besonderen Platz ein. Diese
Liederfolge sicherten Janacek und den ausübenden Künstlern immer
wieder einen verdienten Erfolg. Der Charakter der Lieder und ihre
technischen Schwierigkeiten stellen freilich auch an die Darsteller ganz
besondere Ansprüche.
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